Österreich | Italien | Schweiz – Harley-Davidson hat sich getraut und mit der LiveWire das erste rein elektrisch angetriebene Motorrad eines Großserienherstellers auf den Markt gebracht. Die Motorradikone aus Milwaukee geht damit vollkommen neue Wege. Eine dreitägige Tour durch die Alpen gab Auskunft über die Reisetauglichkeit des Elektromotorrads…
Den ersten Kontakt zur Harley-Davidson LiveWire hatte ich bereits im November 2018 auf der EICMA in Mailand. Im Februar dieses Jahres konnte ich das Elektromotorrad erstmals in Spanien fahren (hier geht´s zum Bericht…). Zum Test der Reisequalitäten des Bikes machte ich mich jetzt auf die „LiveWire Alpentour“ und fuhr von Tirol aus über die höchsten Alpenpässe Italiens und der Schweiz. Insgesamt legte ich dabei 834 Kilometer an drei Tagen zurück.
Das Ladegerät für die Schukosteckdose ist bei der LiveWire praktisch unter dem Sitz verstaut. Damit kann der 15,5 kWh Lithium-Ionen-Akku über Nacht aufgeladen werden. Typ2-Laden benötigt dieselbe Zeit. Schneller geht es nur an CCS-Schnellladestationen, an denen mit Gleichstrom in rund einer Stunde vollgeladen werden kann.
Mein Reisegepäck hatte ich in meinem bewährten Kriega US-30 Drypack verstaut und am Rücksitz der LiveWire befestigt, die Foto- und Filmausrüstung sowie Regenschutz in meinen Vaude QBag Rucksack gepackt. Damit war ich gut gerüstet für eine mehrtägige Motorradreise.
VON TIROL NACH SÜDTIROL
Der erste Tag führte mich auf insgesamt 284 Kilometern von Fieberbrunn in Tirol nach Schlanders in Südtirol. Die Mittagspause nutzte ich dazu, in Hall in Tirol nach 101 Kilometern auf der Landstraße an der Lidl-CCS-Schnellladestation kostenlos nachzuladen. In 44 Minuten flossen 7,62 kWh mit einer durchschnittlichen Ladeleistung von 10,4 kW in die LiveWire. In der Zeit wurde der Akku von 48 auf 100 Prozent geladen. Nach einer kleinen Jause ging es mit einer prognostizierten Reichweite von 200 Kilometern weiter. Genug also, um die restlichen 183 Kilometer des Tages ohne weiteren Ladestopp zu bewältigen.
Nach der Landeshauptstadt Innsbruck führte meine Reise weiter durch das Inntal. Kurz nach Pfunds war die Reschenstraße ab der Kajetansbrücke und damit der direkte Weg auf den Reschenpass gesperrt. Die Umleitung ging über die Schweizer Grenze und entlang des Inn bis zur nächsten Brücke. Dort bog die Strecke links ab und es ging in mehreren Serpentinen hinauf nach Nauders.
Über die Harley-Davidson-App war es möglich Routen am Smartphone zu planen und Richtungshinweise am 4,3 Zoll Farbtouchscreen anzeigen zu lassen. Die Entfernungsangaben erfolgten aber mit ziemlich zeitlicher Verzögerung, was die Nutzung zur Navigation nur sehr eingeschränkt möglich machte. Weiters verlor die App sehr oft den GPS-Kontakt.
Laut Anzeige war das Reichweitenplus nach dem Anstieg zum Reschenpass aufgebraucht. Da ich noch keine Erfahrung mit der Rekuperation der LiveWire hatte, war ich mir nicht sicher, ob die Akkuladung bis Schlanders reichen würde. Da sich am Weg dorthin jedoch mehrere CCS-Ladestationen befanden, fuhr ich ohne Bedenken weiter. Vorbei am wunderbaren Reschensee mit Blick auf den verschneiten Ortler ging es immer leicht bergab bis zu meinem Ziel in Schlanders. Dort kam ich mit 7 Prozent Akkuladung und 14 Kilometern Restreichweite an. Im Hotel war es gar nicht so einfach, einen Platz an einer Steckdose zu finden. Ein Verlängerungskabel aus der Küche machte es dann aber möglich und so konnte ich über Nacht problemlos vollladen.
KÖNIGSETAPPE BIS AUF 2.800 METER
Nach einem köstlichen Frühstück im Hotel Schwarzer Widder machte ich mich bei herrlichem Sonnenschein auf den Weg zu den Höhepunkten meiner Reise. Heute standen mehrere Pässe über 2.000 Meter auf dem Programm. Den Anfang machte die Panoramastraße zum Stilfser Joch. Sie führt auf Südtiroler Seite in 48 Kehren auf 26 Kilometern vom auf 915 Metern gelegenen Prad am Stilfserjoch auf die Passhöhe in 2.757 Metern Seehöhe.
Die vielen engen Spitzkehren sind nicht leicht zu fahren. Die LiveWire lenkte jedoch bereitwillig ein und so wurde jede einzelne Kehre zum reinen Genuss. Die gleichmäßige Kraftentfaltung, die ohne Schaltvorgänge auskommt, steigert noch das Vergnügen. Damit steht jederzeit der optimale Vortrieb zur Verfügung und flüssiges Fahren ist selbst in den engsten Kurven mühelos möglich.
Um die wunderbaren Eindrücke am höchsten Gebirgspass Italiens länger genießen zu können, beschloss ich, die Passstraße noch einmal zu befahren. So ging es von der Passhöhe zuerst zurück nach Prad am Stilfserjoch. Nach den heute bisher 71 zurückgelegten Kilometern mit rund 1.900 Höhenmetern waren 40% der Akkuladung verbraucht (Restreichweite 110 Kilometer). An der CCS-Schnellladestation des E-Werks Prad konnte ich in 37 Minuten wieder vollladen. 5,84 kWh Befüllung bedeuteten eine durchschnittliche Ladeleistung von 9,4 kW.
Bei der zweiten Fahrt auf das Stilfser Joch ging es bis zur Tibethütte auf 2.800 Metern Seehöhe, dem höchsten Punkt der LiveWire Alpentour. Von dort oben bot sich ein wunderbarer Blick auf die Ortler-Gruppe und die zahllosen Serpentinen der Passstraße. Auf 30 Kilometern hatte ich 29 Prozent Akkuladung verbraucht, die 103 Kilometer prognostizierte Restreichweite sollten bis ins knapp 90 Kilometer entfernte Davos ausreichen.
ÜBER DEN HÖCHSTEN GEBIRGSPASS DER SCHWEIZ
Von der Passhöhe fuhr ich mittlerweile in der Lombardei hinunter Richtung Bormio und bog dann rechts zum etwas tiefer gelegenen Umbrailpass ab. Dort befindet sich auf 2.503 Metern Seehöhe die Grenze zur Schweiz. In zahllosen Kehren schlängelte sich die Straße umrahmt von einer wunderbaren Bergkulisse hinunter nach Santa Maria im Münstertal. Die LiveWire gewinnt durch Rekuperation am Weg von den Pässen hinunter zwar nur wenige Kilometer an Reichweite zurück, hat aber bergab keinen Reichweitenverbrauch, was die Reichweite wiederum vergrößert.
Nach dem Ofenpass auf 2.153 Metern war bald der Schweizerische Nationalpark erreicht, der mit seiner Gründung im Jahr 1914 der älteste Nationalpark der Alpen ist. Seine naturbelassene Landschaft beeindruckte mich sehr. Weiter ging es im Kanton Graubünden durch die Gemeinde Zernetz und dann links hinauf zum Flüelapass auf 2.383 Metern. Der Weg war gesäumt von beeindruckenden Dreitausendern. Oben auf der Passhöhe zeigte sich der Schwarzsee in einer wunderbaren Abendstimmung.
Nach insgesamt 196 Kilometern und vier Anstiegen auf über 2.000 Meter Seehöhe kam ich mit 29 Prozent Akkuladung und 44 Kilometern Restreichweite in Davos an. So hatte ich durch Rekuperation rund 30 Kilometern Reichweite gegenüber der Prognose am Stilfser Joch gewonnen. Sicherlich auch deshalb, weil Davos 1.200 Meter niedriger als der Startpunkt liegt.
LADEPROBLEM AN SCHWEIZER STECKDOSEN
In meinem Quartier in Davos angekommen, wollte ich wieder über Nacht an einer Steckdose laden. Als ich das Ladegerät wie gewohnt angesteckt hatte, leuchtete jedoch eine LED rot auf und es wurde nicht geladen. Auch der Versuch an weiteren Steckdosen führte zu keinem anderen Ergebnis. So blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine alternative Lademöglichkeit zu suchen.
Problematisch in der Schweiz, da man an öffentlichen Ladestationen die Ladung zumeist über eine App oder ein Internetprotal starten und bezahlen muss und es bei den horrenden Roamingkosten hierzulande eine sehr teure Angelegenheit geworden wäre. Gott sei Dank erhielt ich aber die Info, dass es beim Kongresszentrum in Davos Schnellladesäulen gebe, bei denen man mit Kreditkarte laden könne. Die zweite ABB-Schnellladesäule akzeptierte meine Karte und so lud ich um vergleichsweise günstige CHF 4,67 in 53 Minuten 10,49 kWh nach. Von 29 auf 100 Prozent mit einer durchschnittlichen Ladeleistung von 11,9 kW. Also nochmal Glück gehabt.
VON DAVOS ZURÜCK NACH TIROL
Aufgrund der allgemein schlechten Wetterlage änderte ich meinen ursprünglichen Plan und fuhr nicht weiter in den Westen, sondern trat die Heimreise in Richtung Osten an. Es sollten heute insgesamt 354 zum Teil sehr nasse Kilometer werden. Von Davos ging es bei zu Beginn noch sonnigem Wetter zurück über den Flüela- und Ofenpass. In Santa Maria im Münstertal kam ich dann erstmals auf regennasse Fahrbahn. Spritzschutz ist an der LiveWire praktisch keiner vorhanden, vor allem die unverständliche Aussparung im hinteren Kotflügel sorgt dafür, dass man in kürzester Zeit bis obenhin nassgespritzt wird.
In Zams steuerte ich nach 167 Kilometern mit 12 Prozent Akkuladung und 20 Kilometern Restreichweite eine CCS-Schnellladestation an, die ich auf der „NEXTCHARGE“-App gefunden hatte. Um Laden zu können, musste ich mich zuerst im Internet auf der be.ENERGISED-Plattform registrieren. Im strömenden Regen wurde mir bewusst, dass jede „normale“ Tankstelle über ein Dach und zumeist einen Shop verfügt, was bei sämtlichen mir bekannten E-Tankstellen nicht der Fall ist. Hier besteht noch deutlicher Ausbaubedarf, zumal das elektrische Nachtanken wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt. Um 8,62 Euro waren nach 62 Minuten 13,06 kWh geladen, was eine durchschnittliche Ladeleistung von 12,7 kW bedeutete.
Die prognostizierte Reichweite nach dem Laden betrug 170 Kilometer. Damit fehlten gerade einmal fünf Kilometer, um mein heutiges Tagesziel zu erreichen. Aufgrund des schlechten Wetters wählte ich die Autobahn und versuchte mit einer im Tempomat eingestellten 80 km/h-Fahrt Reichweite zurückzugewinnen. Da dies jedoch nicht gelang und mich die Schleichfahrt auf der Autobahn ziemlich langweilte, erhöhte ich das Tempo, wohlwissend, dass damit noch ein weiterer Ladestopp erforderlich werden würde.
Bei Autobahngeschwindigkeit stellte sich dann ein deutlich höherer Verbrauch ein und so landete ich in Hall in Tirol nach 85 Kilometern mit 42 Prozent Akkuladung und 70 Kilometern Restreichweite an der nächsten CCS-Schnellladestation. In 30 Minuten lud ich um 4,62 Euro 6,15 kWh in die LifeWire (durchschnittliche Ladeleistung 12,3 kW). Bei einem Akkustand von 83 Prozent wurden danach 140 Kilometer Reichweite angezeigt. Im strömenden Regen ging es weiter Richtung Osten. Nach 101 Kilometern kam ich mit 13 Prozent Akkuladung und 21 Kilometer Restreichweite an meinem Ziel in Fieberbrunn an. Die flotte Fahrt auf der Autobahn hatte knapp 20 Kilometer Reichweite gekostet.
ARMIN ON BIKE CONCLUSIO
Die lange Entwicklungszeit der LiveWire hat sich gelohnt, Harley-Davidson hat ein sehr ausgereiftes Elektromotorrad auf den Markt gebracht. An drei Tagen waren 834 Kilometer mit Passstraßen bis auf 2.800 Meter Seehöhe problemlos möglich. Aufgrund des tiefen Schwerpunkts ist der E-Streetfighter trotz des relativ hohen Gewichts von 249 Kilogramm sehr handlich zu fahren und es ist immer wieder ein Genuss, die dank des 78 kW (106 PS) starken Elektromotors beeindruckende Beschleunigung auszukosten.
Die prognostizierten Restreichweiten stimmten jederzeit sehr genau, was sehr hilfreich für einen stressfreien Reiseablauf war. Die erzielten durchschnittlichen CCS-Ladeleistungen zwischen 9,4 und 12,7 kW reichten aus, in etwas mehr als einer Stunde von 0 auf 100 Prozent aufzuladen. Wenn man die Ladestopps etwas vorausplant und mit Pausen für sich selbst kombiniert, ist damit genussvolles Reisen mit der Harley-Davidson LiveWire selbst in den Bergen sehr gut möglich.
Text und Fotos: Armin Hoyer – arminonbike.com